Sexuelle Belästigung: Eine allgemeine Einordnung

Interview
In welchen Formen und Konstellationen kann sexuelle Belästigung auftreten? Und wieso ist sexuelle Belästigung überhaupt ein relevantes Thema? Diese und weitere Fragen beantwortet die ehemalige Kriminalkommissarin Ulrike Leimanzik in diesem Interview.
Bist oder warst du von sexueller Belästigung betroffen – oder kennst eine akut betroffene Person? Dann kontaktiere die hier hinterlegten psychologischen Ansprechpersonen oder eine externe Beratungsstelle, wenn du mit jemandem (anonym) sprechen möchtest. Beachte bitte außerdem, dass in diesem Gespräch Täter:innen oft in männlicher und Betroffene in weiblicher Form angesprochen werden. Trotzdem gibt: Jedes Geschlecht kann sowohl Täter:in, als auch Opfer sein – alle Kombinationen sind möglich.

Wieso wird erst jetzt so häufig über das Thema gesprochen?

Das Phänomen sexuelle Belästigung gibt es mit Sicherheit schon, seit es Menschen auf der Erde gibt, nur man hat nie darüber gesprochen. Man hat es entweder völlig ignoriert oder belächelt und gesagt: „Oh Gott, ist doch nicht schlimm” und hat zu den Betroffenen gesagt: „Stell dich nicht so an!” Oder hat das sogar als Kavaliersdelikt angesehen. Man wusste, es ist nicht so richtig erlaubt, aber auch nicht ehrenrührig. Und erst die Vorfälle 2015, die Silvesternacht in Köln, die hat das zu Tage gebracht und da ist ja dann anschließend der Begriff “Sexuelle Belästigung” als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen worden. Das gab es vorher überhaupt noch nicht. Und 2017 begann die MeToo Bewegung. Dass ganz, ganz viele Frauen auf der ganzen Welt darüber gesprochen haben, dass sie belästigt worden sind. Und seitdem ist das wirklich ein Thema, aber es ist eben kein neues Delikt, sondern das gab es schon immer. Nur jetzt ist es aus der Tabu-Ecke raus und man spricht darüber, was auch sehr gut ist.

Können Sie das einmal einordnen, wie häufig oder wie viele Menschen überhaupt von dem Thema betroffen sind?

Das ist auf der einen Seite sehr schwierig, denn wir haben zwar eine Polizeistatistik, aber da fließen eben nur die Anzeigen ein. Das heißt, das sogenannte Hellfeld wird da abgelichtet. Aber wenn man einmal weiß, was alles zu einer sexuellen Belästigung gehört, dann hat man auch eine Vorstellung, wie sehr das verbreitet ist. Es ist nämlich nicht nur das Berühren von Brust oder Intimbereich über der Kleidung, unter der Kleidung – da gehört viel, viel mehr zu. Das sind Blicke. Vielleicht haben Sie das auch schon mal erlebt, dass Sie in einen Raum gekommen sind, da waren mehrere Personen und Sie wurden regelrecht mit den Blicken ausgezogen, was ein sehr unangenehmes Gefühl macht. Das sind Gesten, das ist Mimik, das sind Worte, auch aufgeschrieben, als E-Mail, als Notizzettel zugeschoben, das Zeigen von pornografischen Bildern oder von Nacktfotos. Das alles gehört zur sexuellen Belästigung. Und wenn man sich das anhört, diese Bandbreite, dann hat man in etwa eine Vorstellung, wie weit verbreitet das ist und wie viele Menschen davon betroffen sind.

Gibt es denn Personen, die hiervon mehr betroffen sind als andere?

Sicherlich ist dieses Phänomen in der Arbeitswelt verbreiteter, weil man da tagtäglich mit Kolleg:innen zusammen ist, aber auch im privaten Bereich, in der Freizeit, in Vereinen, also überall. Und wenn man da jetzt mal genauer hinguckt, wer ist betroffen? Es sind sehr viele Frauen, aber es sind auch Männer, die betroffen sind. Täter sind sehr viele Männer, aber es gibt auch Frauen, die als Täter, Täterinnen auftreten. Und wenn ich jetzt so auf die Berufswelt gucke, die Konstellation Opfer, Täter, da sehen wir dann immer so ein Machtgefälle. Der Täter hat Macht und das Opfer steht weiter drunter. Entweder durch die Position, vorgesetzte Eigenschaft, nachgeordnet oder Alter, der eine ist älter, erfahrener, der andere Neuling. Deswegen auch im Kollegenbereich auf dieser Ebene, da gibt es dann auch noch so Niveauunterschiede und der Täter ist immer derjenige, der mächtiger ist.

Bedeutet das, es geht auch darum, einfach mehr Macht zu erlangen, also die andere Person unterzuordnen?

Ja, genau das ist das Ziel. Macht ausüben, das heißt, das Gegenüber zunächst verunsichern, dann erniedrigen, beschämen, verängstigen. Das ist alles. Und je öfter so eine sexuelle Belästigung passiert, umso eher erreicht natürlich der Täter sein Ziel.

Ist das schon der Grund, warum sexuelle Belästigung eben kein Kavaliersdelikt ist? Also keine Tat, die einfach stehen gelassen und als normal oder nicht so schlimm hinstellen werden sollte?

Genau so ist es. Mittlerweile weiß man, Mobbing und Stalking, wo ähnliche Strukturen vorhanden sind, machen regelrecht krank. Und genauso ist es bei einer sexuellen Belästigung. Bei einer einmaligen Belästigung hat jeder sicherlich ein unangenehmes Gefühl, ist aber noch in der Lage, das so wegzustecken. Aber wenn das immer wieder passiert, dann geht das wirklich an die Substanz. Und das macht dann fertig. Und es gehört einfach zur Strategie eines Täters, sein Opfer zu erniedrigen und aber auch zu isolieren, dass es sich möglichst keine Hilfe sucht, sich möglichst niemandem anvertraut. Und wenn er das geschafft hat, dann hat er natürlich die Oberhand.

Das heißt, Täter:innen haben vor allem vor 2015 sehr davon profitiert, dass so wenig darüber gesprochen wurde?

Ja, weil das so unbekannt war. Natürlich, den Begriff sexuelle Belästigung kannte man. Ich hatte aber, als ich noch aktiv im Kriminaldienst tätig war, immer Probleme, einen Straftatbestand daraus zu machen. Ich konnte dann höchstens den Weg über vielleicht Beleidigung, oder, wenn es eine körperliche Berührung war, vielleicht Körperverletzung gehen. Aber es war immer sehr schwierig. Und jetzt, wo es bekannt ist und vor allen Dingen ein Straftatbestand ist, da ist es eben ganz klar, was dieses Delikt ausmacht.

Das heißt, es ist jetzt auch dadurch einfacher, überhaupt eine Verurteilung zu erzielen?

Da bin ich sehr vorsichtig, denn nur, dass es jetzt im Strafgesetzbuch drin steht, heißt noch lange nicht, dass dann alle Täter, die angezeigt werden, auch verurteilt werden. Also, das sind schon fast zwei Paar Schuhe. Aber es ist einfach wichtig, es macht eine Anzeige leichter. Und dennoch gibt es da ganz viele Schwierigkeiten, denn sexuelle Belästigung geht ja auch über die individuelle Grenze eines Menschen. Und diese Grenze bestimmt jeder für sich. Das heißt, das, was für Sie vielleicht noch okay ist, das sage ich schon: „Nee, geht ja gar nicht.” Und das muss man in einer Anzeige, die ja letztendlich für den Richter ausschlaggebend ist, ein Urteil zu finden, das muss man dann verdeutlichen, dass dieser Täter über die Grenze gegangen ist und das mehrfach und mich dabei eben psychisch verletzt hat. Und das ist sehr schwierig, nach wie vor, auch wenn es jetzt im Strafgesetzbuch als Delikt festgeschrieben ist.

Weil Sie das gerade noch mal so hervorgehoben haben: Es geht also immer um die individuelle Grenze jeder einzelnen Person?

Ja – und die ist sehr, sehr unterschiedlich.

Wieso setzen Sie sich auch über Ihren Beruf hinaus immer noch für dieses Thema ein?

Ja, als ich noch im Dienst war, musste ich neutral sein. Ich musste eben alles zusammensuchen und ermitteln, was für die Schuld des Täters oder des Beschuldigten sprach und was dagegen. Denn wir haben ein Strafrecht, wo der Täter im Mittelpunkt steht und nicht das Opfer. Aber mein Herz hat immer für die Opfer geschlagen, weil ich erlebt habe, was auch so eine Tat wie sexuelle Belästigung mit einem Menschen machen kann. Und seit ich pensioniert bin, unterliege ich nicht mehr dem Strafverfolgungszwang. Und durch meine Kooperation mit vielen Beratungsstellen und Jugendämtern über all die Jahre, habe ich eben auch die Kontakte. Und deshalb finde ich es jetzt gut, dass ich gemeinsame Fortbildungen mit Sozialpädagogen machen kann. Und da ist es mir ein großes Anliegen zu erklären, wie die Polizei arbeitet, wo die Möglichkeiten sind, wo sind aber auch die Grenzen. Und ich sage dann auch ganz deutlich, wann man lieber nicht sofort zur Polizei gehen sollte, sondern anderweitige Hilfe sucht. Und das kann ich jetzt und damit helfe ich auch vielen Menschen. Denn ich habe auch erlebt, dass viele so in ihrer ersten Panik sofort zur Polizei gelaufen sind. Und das Ganze wurde dann sehr schnell durch die Staatsanwaltschaft eingestellt und da gab es große Enttäuschungen. Und deswegen möchte ich da so ein bisschen aufklären und auch deutlich machen, welche anderweitigen Hilfen auch noch greifen. Denn Anzeige muss nicht unbedingt eine Hilfe sein, ist ja auch eine Belastung, so ein Verfahren. Aber es gibt ganz viele Hilfen, die man den Opfern empfehlen kann.

Das waren ein paar erste Einblicke zum Thema sexuelle Belästigung. Wenn du mehr dazu erfahren möchtest, welche Auswirkungen sexuelle Belästigung auf Betroffene hat oder wie Handlungsmöglichkeiten aussehen, schau dir gerne die weiteren Interviews hierzu in dieser Mediathek an. Zusätzlich stehen dir hier auf der Plattform weitere Informations- und Unterstützungsangebote zur Verfügung.
Dieser Artikel wurde von Evermood erstellt und zuletzt am aktualisiert.
Schweizerische Post

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